Acht bewegte Jahrhunderte

Die Marienkirche im Wandel der Zeit

Wie kaum eine andere Kirche trägt die Marienkirche die Geschichte mehrerer Zeitalter in sich. Hier liegen Wunder und Wunden so nah beieinander.

Mittelalter

Die Entstehung der Marienkirche ist eng mit der Entstehung der Stadt Lübeck verbunden. Schon um 1160, kurz nach der Gründung der Stadt an ihrem heutigen Ort, gab es eine Marktkirche. Sie war zunächst die alleinige Stadtpfarrkirche. Wie sie aussah, weiß heute niemand. Vermutlich war sie aus Holz.

 

1160 wurde Lübeck Bischofsstadt. Mit der Weihe des ersten Doms 1163 wurde die Marienkirche den Domherren unterstellt. Schon früh erkämpfte der Rat der Stadt sich Mitspracherechte. Die Marienkirche blieb die Kirche der führenden Bürger und des Rates, auch nach Gründung der übrigen Stadtpfarrgemeinden.

 

Zu Beginn des 13. Jahrhunderts war die Marienkirche eine romanische Basilika.

 

Im Jahr 1251 begann der Umbau im Stil der gotischen Kathedrale. Zunächst war eine Hallenkirche geplant, dann jedoch realisierte man eine hochgotische Basilika mit enormen Ausmaßen. In 38,5 Metern Höhe überspannen die Gewölbe das eindrucksvolle Mittelschiff, die beiden Türme erreichen 125 Meter.

 

Vorbild waren die großen französischen Kathedralen, allen voran die von Reims und Soissons. Das bedeutete aber, dass die Lübecker Baumeister den gotischen Stil in gewisser Weise neu erfinden mussten. In der norddeutschen Ebene gab es keine nennenswerten Steinbrüche. Die mächtigen, hoch aufragenden Formen der Gotik mussten hier mit kleinen, aus Ton gebrannten Backsteinen verwirklicht werden.

 

Zu Beginn des 14. Jahrhunderts lagen Bürger und Bischof im dauernden Streit. Dass sich die Lübecker Bürger sich den Bau zutrauten, dass es ihnen schließlich gelang, aus Backstein eine Kirche zu bauen, deren Ausmaß den nahegelegenen Dom übertrumpfte: Das zeigt, wie selbstbewusst und wie reich diese Bürger im 13. und 14. Jahrhundert waren.

Reformation

Die Reformation erfasste Lübeck erst spät. Zu den ersten Predigern, die sich ab 1523 öffentlich zu der neuen Bewegung bekannten, gehörte Johannes Fritze, Kaplan an St. Marien. Die Domherren entzogen ihm die Stelle, und er ging nach Hamburg. Die evangelische Bewegung der Bürger ließ sich aber nicht unterdrücken. Ein sogenannter "Singekrieg" war die Folge, bei dem die katholischen Messen durch das laute Singen von reformatorischen Psalmliedern unterbrochen wurden. Rat und Domkapitel mussten Ende 1529 die Entlassung des populären evangelischen Kaplans Johannes Walhoff an St. Marien rückgängig machen. 1530 setzte die Reformation sich mit der Kirchenordnung von Johannes Bugenhagen in Lübeck durch. Das führte auch zu einer wesentlich stärkeren Beteiligung der Bürgerschaft an der Regierung der Stadt.

 

Die Reformation veränderte das Innere der Marienkirche, jedoch nicht gewaltsam wie in anderen Regionen.

 

Nicht alle, aber sehr viele Bilder und Figuren wurden aus ihr entfernt: die Marienfiguren im Chor und die vielen Bilder, die die Briefkapelle zierten. Das sichtbarste Zeugnis der Reformation war die neue Kanzel von 1534, die mit aufwendigen Reliefs und niederdeutschen Sprüchen besetzt war. Gottesdienst und Predigt hatten ihren Platz nur noch im Langhaus und im Chor, nicht mehr, wie bisher, in den vielen Seitenkapellen mit ihren Nebenaltären. Trotz des Entfalls der Marienanbetung behilet die Kirche weiterhin ihren Namen.

Neuzeit

Im 17. und 18. Jahrhundert gestalteten die Bürger ihre Marienkirche, soweit der Bau es zuließ, nach den Idealen des Barock. Die Wände waren weiß getüncht, und an den Pfeilern der Kirchenschiffe hing eine Unzahl von prächtig gestalteten Epitaphien führender Bürger. Sie brachten der Marienkirche den leicht spöttischen Titel "Ruhmeshalle des Lübecker Patriziats" ein.

 

Die enge Verbindung zwischen Rat und Marienkirche begann sich im 18. Jahrhundert zu lockern. Im 19. Jahrhundert fiel ein Teil der barocken Ausstattung der neu erwachten Wertschätzung mittelalterlicher Kunst zum Opfer.

 

Bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten schaltete der Senat der Stadt die Lübecker Evangelisch-Lutherische Kirche gleich und entmachtete die Kirchenvorstände - auch den von St. Marien. 1934 wurde der Nationalsozialist Erwin Balzer zum Bischof ernannt. St. Marien war seine offizielle Predigtkirche. Der Marienpastor Johannes Pautke, der zur oppositionellen Bekennenden Kirche gehörte, wurde zwischen 1936 und 1937 vorübergehend seines Amtes enthoben, konnte aber nach heftigen Protesten zurückkehren.

Palmarum 1942

In der Nacht vom 28. zum 29. März 1942, dem Palmsonntag, griffen britische Bomber Lübeck an. Es war der erste Angriff auf eine deutsche Altstadt. Die Marienkirche wurde schwer beschädigt. Teile der Gewölbe von Mittel- und Seitenschiff stürzten ein, ebenso die Dächer der Türme.

 

Die Glocken des Südturms stürzten herab und zerstörten die mittelalterlichen Fensterscheiben, die dort in Kisten verpackt gelagert waren. Die alten Orgeln verbrannten. Das mittelalterliche Inventar der Kirche wurde fast komplett zerstört.

Nach 1945

Bei dem Brand der Kirche war ein Großteil des Putzes von den Wänden abgeplatzt. Dabei kam überraschenderweise die ursprüngliche, mittelalterliche Ausmalung der Kirche zum Vorschein. Sie wurde noch während des Krieges auf Fotos dokumentiert. Nach dem Krieg wurde sie restauriert. Es gab dabei Konflikte zwischen Denkmalpflegern und Restauratoren. Die Denkmalpfleger ließen Ergänzungen der erhaltenen Originale nur in sehr engen Grenzen zu. Die Restauratoren nahmen sich erhebliche Freiheiten.

 

Einer von ihnen, Lothar Malskat, brachte es dabei zu zweifelhaftem Ruhm: Er malte frei erfundene Figuren auf die Wände des Chors. Malskat, der sich für einen genialen Fälscher und Künstler hielt, zeigte sich 1952 selbst an und wurde, zumal er seine Taten gekonnt übertrieb, zum Medienstar. Die Fälschungen im Chor wurden kurz darauf entfernt.

 

Der größte Teil des Wiederaufbaus war 1959 abgeschlossen, als die Turmhelme wiederhergestellt und mit Kupfer gedeckt waren. 1980 bekam St. Marien wieder einen Dachreiter. 

Video: St. Marien im Laufe der Zeit